Bundesgericht bestätigt Recht auf negative Feststellungswiderklage
Bekanntlich hat das Schweizer Bundesgericht am 13. Juni 2017 ein betreffend Widerklagen wegweisendes Urteil (BGE 143 III 506) gefällt, das für Klägerinnen und Kläger vor Schweizer Gerichten signifikante Auswirkungen haben kann (vgl. hierzu etwa meinen Post vom 7. Juli 2017). Rund zwei Jahre später hat das Bundesgericht nun einen weiteren Leitentscheid zu diesem Thema gefällt, der kürzlich auf seiner Website hochgeladen wurde (Urteil 4A_29/2019 vom 10. Juli 2019).
In seinem oben erwähnten Präjudiz vom 13. Juni 2017 hatte das Bundesgericht das Ergebnis seiner Erwägungen folgendermassen zusammengefasst (BGE 143 III 506 E. 4.4 S. 519; Hervorhebung zusätzlich):
“Erhebt der Kläger eine echte Teilklage, für die aufgrund ihres Streitwerts von höchstens Fr. 30’000.- nach Art. 243 Abs. 1 ZPO das vereinfachte Verfahren gilt, hindert Art. 224 Abs. 1 ZPO die beklagte Partei nicht daran, eine negative Feststellungswiderklage zu erheben, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge hat.”
Der vorstehend zitierte Verweis des Bundesgerichts auf “echte” Teilklagen scheint für die Klägerin im Verfahren, das zum hier diskutierten neuen Leitentscheid 4A_29/2019 vom 10. Juli 2019 geführt hat, der Aufhänger bzw. die Argumentationsgrundlage dafür gewesen zu sein, dass mit Bezug auf ihre “unechte” Teilklage die von der Gegenpartei erhobene negative Feststellungswiderklage nicht zulässig sei. Interessanter Weise wurde diese Argumentation sowohl von der erst- als auch zweitinstanzlichen Vorinstanz des Bundesgerichts geschützt (4A_29/2019, E. 2.2).
Spezifischer betrachtet, hatte die einschlägige Klägerin (Arbeitnehmerin) gegen ihre Arbeitgeberin geltend gemacht, sie habe Ansprüche auf Überzeitentschädigung für die Jahre 2014 bis 2016 zugut. Eingeklagt hat die Klägerin den angeblichen Gesamtanspruch für das Jahr 2016, nicht aber angebliche Überzeitansprüche für die Jahre 2014 oder 2015 (auch nicht zum Teil). Das Arbeitsgericht Zürich und das Obergericht des Kantons Zürich (Obergericht Zürich) als Vorinstanzen des Bundesgerichts waren im Ergebnis zur Auffassung gelangt, eine entsprechende Teilklage sei als unechte Teilklage zu qualifizieren, auf welche die bundesgerichtliche Rechtsprechung von BGE 143 III 506 nicht anwendbar sei (4A_29/2019, E. 2.2):
“[Die Vorinstanz] erwog, die Beschwerdegegnerin mache insgesamt drei Forderungen betreffend Überzeitentschädigung für drei verschiedene Zeitabschnitte geltend, konkret für die Jahre 2014-2016, wobei sie jedoch nur diejenige für das Jahr 2016 eingeklagt habe. Die Ansprüche hätten ihre Grundlage zwar alle in demselben Arbeitsvertrag, beträfen ‚aber jeweils unterschiedliche Perioden und damit verschiedene Lebenssachverhalte’. Folglich handle es sich bei ihnen um drei separate, eigenständige Ansprüche. Da die Beschwerdegegnerin mit ihrer Klage ‚einen individualisierbaren Anspruch des Gesamtbetrages’ geltend mache, liege eine unechte Teilklage vor, und die negative Feststellungswiderklage der Beschwerdeführerin sei aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30’000.– unzulässig.”
Das Bundesgericht lehnt diese Auffassung des Obergerichts Zürich ab, womit es das Recht auf Erhebung von negativen Feststellungswiderklagen, mit den bekannten problematischen Auswirkungen auf klagende Parteien (vgl. etwa meinen bereits erwähnten Post vom 7. Juli 2017), stärkt. Insbesondere erwägt und entscheidet das Bundesgericht folgendes in seinem neuen Leiturteil (4A_29/2019, E. 2.3 und 2.4):
“2.3 […] Wenn das Bundesgericht in BGE 143 III 506 darauf hingewiesen hat, dass es sich um eine sogenannte echte Teilklage handle, dann deshalb, weil in solchen Fällen – etwa bei einer Klage auf Bezahlung eines vom Kläger einzig betragsmässig beschränkten Teils einer Kaufpreisforderung […] – das Interesse der beklagten Partei an der negativen Feststellungswiderklage auf der Hand liegt, zumal sie den Streitgegenstand nicht anderweitig rechtshängig machen kann (Art. 64 Abs. 1 lit. a und Art. 59 Abs. 2 lit. d ZPO). Indessen ist die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO nicht auf diesen Fall beschränkt, sondern gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, im Sinne von Art. 88 ZPO die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen.
2.4. Vorliegend ist dies offensichtlich der Fall: Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Klageschrift vom 14. Dezember 2017 behauptet, es stehe ihr eine ‚Gesamtforderung aus Überzeitentschädigungen aus den Jahren 2014, 2015 und 2016 im Umfang von CHF 51’850.-‘ zu, jedoch unter ausdrücklichen [sic]Nachklagevorbehalt lediglich die Überzeitentschädigung für das Jahr 2016 im Umfang von Fr. 14’981.25 eingeklagt. In dieser Situation muss es der Beschwerdeführerin möglich sein, mittels negativer Feststellungswiderklage auch die Überzeitentschädigung aus den Jahren 2014 und 2015 im selben Verfahren zur Beurteilung zu bringen, gerade weil sich gemäss den Ausführungen der Vorinstanz die Frage der Kompensation von Überzeit aus den Vorjahren stellt […]. Ob die Entschädigung für die während eines bestimmten Kalenderjahrs angeblich geleistete Überzeit einen selbständigen Streitgegenstand darstellt, ist entgegen der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin nicht entscheidend. Demnach steht Art. 224 Abs. 1 ZPO dem Eintreten auf die Widerklage der Beschwerdeführerin nicht entgegen.”
Nach meinem Dafürhalten ist es aus dogmatischer Sicht zu begrüssen, dass das Bundesgericht im vorliegenden Zusammenhang dem Arbeitsgericht Zürich und Obergericht Zürich mit Blick auf die von diesen Gerichten vertretene, meines Erachtens künstlich erscheinende Unterscheidung zwischen echten und unechten Teilklagen nicht gefolgt ist. Hiervon unabhängig ist und bleibt es aus Klägerperspektive in prozesstaktischer Hinsicht problematisch, das Instrument einer Teilklage nicht mehr einsetzen zu können, ohne das Risiko einer Streitwert- und damit Risikoerhöhung aufgrund einer von der Beklagten anhängig gemachten negativen Feststellungswiderklage gewärtigen zu müssen, gerade im Lichte des in der Schweiz in Zivilprozessen hohen Kostenrisikos (vgl. hierzu etwa meinen Post vom 11. Oktober 2017).
Philipp H. Haberbeck, Zürich; erstmals veröffentlicht auf LinkedIn am 25. Juli 2019 (www.haberbeck.ch)
Rechtsgebiete: Haftpflichtrecht