Der Einzelkämpfer als Prozessanwalt
Hin und wieder werde ich gefragt, ob es überhaupt möglich sei, als Einzelanwalt – die Amerikaner und Engländer sprechen vom “solo practitioner” – grosse Zivilprozesse zu führen. In zwei Beiträgen auf LinkedIn in englischer Sprache vom 15. Januar 2018 und 26. Januar 2018 habe ich bereits versucht, diese Frage ausführlich zu beantworten. Diese Beiträge habe ich auf englisch geschrieben, weil es vor allem für Personen aus dem angelsächsischen Raum feststeht, dass man als Einzelpraktiker Zivilprozesse ab einer gewissen Komplexität nicht mehr bewältigen kann, was mit Bezug auf US-amerikanische und englische Gerichtsverfahren auch durchaus zutrifft. In der Schweiz sind die einschlägigen Umstände jedoch sehr verschieden, so dass es nach meiner rund zwanzigjährigen Erfahrung praktisch keine Forderungsprozesse gibt, die man vor schweizerischen Gerichten nicht als Alleinpraktiker führen kann. Welche Umstände hierfür verantwortlich sind, hatte ich wie erwähnt in früheren LinkedIn-Beiträgen vom 15. Januar 2018 und 26. Januar 2018 ausführlich diskutiert. Neben anderen sind folgende Umstände zu erwähnen:
In Gerichtsverfahren vor US-amerikanischen und englischen Gerichten haben die Prozessparteien die Möglichkeit, von der Gegenpartei die Herausgabe von sehr vielen Dokumenten zu verlangen. Diese Praxis ist dem schweizerischen Zivilprozessrecht fremd. Im Gegenteil sind in der Schweiz nicht nur entsprechende Beweisausforschungen verpönt, sondern ist die Praxis der Gerichte mit Blick auf Editionsbegehren in der Regel sehr restriktiv. Entsprechend kommt es in Forderungsprozessen vor Schweizer Gerichten unabhängig von der Komplexität der Streitsache nicht vor, dass man als Parteivertreter mit Wagenladungen von Dokumenten konfrontiert ist. Anders kann dies in internationalen Schiedsverfahren aussehen, in denen die IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration eine weite Verbreitung gefunden haben. Diese Regeln stellen mit Bezug auf das Beweisverfahren in internationalen Schiedsverfahren einen Kompromiss zwischen den angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Gepflogenheiten dar und erlauben eine aus schweizerischer Sicht eher extensive “document production”. Demgegenüber ist in Verfahren vor Schweizer Zivilgerichten die Menge an zu verarbeitenden Dokumenten in aller Regel überschaubar, selbst in komplexen Fällen.
Ein weiterer Grund, weshalb Zivilprozesse vor angelsächsischen Gerichten sehr aufwändig sind, ist der Umstand, dass entsprechende Prozesse nach meiner Erfahrung weniger strikt strukturiert sind als die Verfahren vor Schweizer Zivilgerichten. So werden die Parteien in schweizerischen Zivilprozessen etwa zur Einreichung von Rechtsschriften grundsätzlich vom Gericht aufgefordert, zumeist zu je zwei Rechtsschriften (Klage – Klageantwort, Replik – Duplik). Von sich aus dem Gericht zahlreiche und zum Teil voluminöse schriftliche Stellungnahmen im Sinne einer “briefing odyssey” einzureichen, kennen wir in der Schweiz nicht. Entsprechend kennen wir in der Schweiz auch nicht die Prozesstaktik, die Gegenpartei mit zahlreichen voluminösen Eingaben “zuzuschütten”.
In US-amerikanischen und englischen Zivilverfahren kann es in komplexen Fällen zu wochenlangen mündlichen Verhandlungen kommen, welche die Parteivertreter während des “trials” komplett absorbieren. Dies kennen wir in Zivilprozessen vor Schweizer Gerichten nicht. Insbesondere die Verfahren vor dem Handelsgericht Zürich sind überwiegend reine Aktenprozesse, in denen bis zur Urteilsfällung überhaupt keine Hauptverhandlung mit mündlichen Parteivorträgen und Zeugeneinvernahmen stattfinden.
Stichwort Zeugen: In angelsächsischen Zivilprozessen sowie in internationalen Schiedsverfahren ist es üblich, die eigenen Zeugen auf ihre Aussage intensiv vorzubereiten, was natürlich zeitaufwändig ist. Auch diese Praxis kennen wir in Schweizer Zivilprozessen nicht. Im Gegenteil ist es Schweizer Anwältinnen und Anwälten grundsätzlich untersagt, Zeugen ausserhalb des Gerichtsverfahrens zu kontaktieren, und die Befragung von Zeugen wird hauptsächlich vom Gericht durchgeführt, während die Parteivertreter nur zur Stellung von Ergänzungsfragen zugelassen werden. Die zeitintensive Vorbereitung von Kreuzverhören, wie man sie aus angelsächsischen Zivilverfahren kennt, fällt in schweizerischen Zivilprozessen somit nicht an.
Dies sind einige der schweizerischen Eigenheiten, die dafür verantwortlich sind, dass es in der Schweiz nach wie vor möglich ist, als traditioneller Einzelanwalt auch komplexe Zivilprozesse zu führen, und solange das schweizerische Zivilprozessrecht nicht amerikanisiert wird, wie etwa die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, dürfte sich hieran in absehbarer Zukunft auch nichts ändern.
PHH, Zürich, den 25. September 2018 (www.haberbeck.ch)
Rechtsgebiete: Allgemeines Vertragsrecht