Gedanken zur Selbstbestimmungsinitiative: Nicht nur auf fremde, auch auf eigene Richter zielt die Selbstbestimmungsinitiative

Gedanken zur Selbstbestimmungsinitiative: Nicht nur auf fremde, auch auf eigene Richter zielt die Selbstbestimmungsinitiative

Die am 6. September 2016 zustande gekommene eidgenössische Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)“ wird zweifellos weiterhin intensiv diskutiert und aus allen denkbaren Richtungen ausgeleuchtet werden. Dies ist gerechtfertigt und wichtig, zielt die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) doch auf einen zentralen und alten Grundsatz unserer Rechtsordnung, dass völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz unserem Landesrecht im Prinzip vorgehen. Hiernach wird ein bestimmter Aspekt der SBI diskutiert, nämlich der Umstand, dass die SBI nicht, wie ihr Titel suggeriert, ausschliesslich den Einfluss fremder Richter, also nicht-schweizerischer Gerichte, sondern auch die Kompetenz schweizerischer Gerichte ins Visier nimmt, namentlich des Schweizer Bundesgerichts.

Im Rahmen der letzten Gesamtreform der Bundesverfassung (BV) verfolgte der Bundesrat u.a. die Absicht, auch auf Bundesebene eine gewisse Form der Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen, also dem Bundesgericht neu die Aufgabe und Kompetenz zu erteilen, unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur kantonale, sondern auch bundesrechtliche Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der BV zu prüfen. Trotz des Umstands, dass diverse Rechtsstaaten seit langem eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, z.B. die USA, Frankreich und Deutschland, und dass die in der Schweiz fehlende Möglichkeit, sich gegen die Anwendung eines verfassungswidrigen bundesrechtlichen Gesetzes zur Wehr setzen zu können, aus rechtsstaatlicher Sicht nicht gerechtfertigt werden kann, gab es im Parlament erheblichen Widerstand gegen dieses Anliegen des Bundesrates. Die Gegner dieses Anliegens stützten sich vor allem auf das Argument, eine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene vertrage sich nicht mit dem schweizerischen Demokratiekonzept. Als Beispiel für diesen Standpunkt sei der damalige Ständerat Bruno Frick zitiert, der in einer am 5. März 1998 geführten Ständeratsdebatte u.a. folgendes ausführte: „Es ist mit dem Demokratieverständnis der Schweiz nicht vereinbar, die Richter über das Volk zu stellen. Das ist nichts anderes als ein entscheidender Demokratieverlust. Wir haben es in unserer Tradition und in unserem Bewusstsein bis heute gelebt, dass die politischen Entscheide vom Volk und vom Parlament getroffen werden. Das Volk hat das letzte Wort und nicht die Richter“. Der Vorschlag, eine Bundesgesetze betreffende Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen, überlebte die parlamentarischen Beratungen nicht und wurde im Oktober 1999 aus der betreffenden Vorlage genommen. Studiert man die einschlägigen parlamentarischen Voten, erkennt man, dass der Grund hierfür in der damaligen politischen Einschätzung lag, eine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene dürfte von verschiedenen Seiten angegriffen und dann vom Volk abgelehnt werden, was die übrigen Elemente der angestrebten Justizreform verhindert hätte. Rolf Engler, der damalige Berichterstatter im Nationalrat, fasste diese Befürchtungen am 6. Oktober 1999 folgendermassen zusammen: „Die Mehrheit will die dringend nötige Justizreform in der Volksabstimmung durchbringen. Sie hat Zweifel daran, ob dies mit der Normenkontrolle, d. h. mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, gelingt. Das ist auch das Hauptargument, weshalb man die Normenkontrolle aus dem Paket der Justizreform herausnehmen und sie sich für eine spätere Abstimmung vorbehalten will“.

Mit Blick auf die SBI fällt auf, dass ihre Initianten – ähnlich wie dies einige Parlamentarier in den vorstehend erwähnten National- und Ständeratsdebatten über die Verfassungsgerichtsbarkeit taten – mit der Sorge um die direkte Demokratie argumentieren, also damit, die SBI bekämpfe die Beschneidung der demokratischen Rechte der Bevölkerung. So heisst es auf der SBI-Internetseite der SVP z.B.: „Politiker, Beamte und Professoren wollen, dass das Schweizer Volk nicht mehr das letzte Wort hat. Sie möchten die Volksrechte einschränken“. Wie erklärt sich diese Analogie zwischen, auf der einen Seite, der Ende der 90er Jahre geführten Diskussion über die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit betreffend Bundesgesetze und, auf der anderen Seite, der heutigen Begründung der SBI? Diesbezüglich dürfte entscheidend sein, dass das Bundesgericht eidgenössische Gesetze in einem gewissen Umfang trotz des vorstehend skizzierten Scheiterns der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene einer gerichtlichen Prüfung unterzieht. So hielt das Bundesgericht z.B. in einem Urteil vom 26. November 2015 in Bezug auf die Rangordnung von Schweizer und Völkerrecht fest, dass in der Rechtsanwendung völkerrechtliche Bestimmungen, denen schweizerische Normen widersprechen, grundsätzlich schweizerischem Recht vorgehen, es sei denn, der Schweizer Gesetzgeber hätte bewusst eine völkerrechtliche Verpflichtung missachten und die politische Verantwortung hierfür bewusst tragen wollen. Diese als „Schubert-Praxis“ bezeichnete ausnahmsweise Ausserachtlassung von Völkerrecht und Bevorzugung von Schweizer Recht gilt gemäss dem erwähnten Bundesgerichtsurteil aber nicht, wenn menschenrechtliche Verpflichtungen der Schweiz in Frage stehen. Gemäss dem Bundesgericht „geht [diesfalls] die völkerrechtliche Norm der nationalen Regelung auch dann vor, wenn der schweizerische Gesetzgeber sie missachten will“. In diesem Sinne unantastbare menschenrechtliche Verpflichtungen der Schweiz ergeben sich insbesondere aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), die für die Schweiz am 28. November 1974 in Kraft trat. Die erwähnte Auffassung des Bundesgerichts hat insbesondere zur Folge, dass das Bundesgericht die Anwendung einer eidgenössischen Gesetzesnorm, die mit der EMRK inkompatibel ist, ablehnen kann, selbst wenn der schweizerische Gesetzgeber diese Inkompatibilität bewusst in Kauf genommen hat. Den Initianten der SBI ist dies offenbar ein Dorn im Auge. Die jetzt zur Diskussion stehende Methode, diesen Dorn zu entfernen, besteht darin, Art. 190 BV um einen dahingehenden Halbsatz zu ergänzen, dass nur noch diejenigen völkerrechtlichen Verträge für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden verbindlich sind, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstand. Letzteres ist bezüglich der EMRK nicht der Fall. Mit anderen Worten hätte die Annahme der SBI u.a. zur Folge, dass Schweizer Gerichte eine eidgenössische Norm anwenden müssten, auch wenn diese Norm mit der EMRK in Widerspruch steht. Die hier thematisierte Stossrichtung der SBI zielt somit nicht auf fremde, sondern auf schweizerische Gerichte, namentlich auf das höchste Schweizer Gericht.

Die politische Motivation der SBI-Initianten hinsichtlich der vorgeschlagenen, vorstehend erwähnten Anpassung von Art. 190 BV liegt auf der Hand. Das menschenrechtliche Rechtsschutzniveau der EMRK liegt unter Umständen höher, als mit politisch angestrebten Ausschaffungs- und anderen Zielen vereinbar ist. Im Abstimmungskampf ist auch dieser Aspekt zu diskutieren. Hierbei ist der Stimmbevölkerung nebst diversen weiteren Punkten darzulegen, dass es bei der SBI – obwohl der Titel der Initiative dies suggeriert – nicht ausschliesslich um ausländische Gerichte geht, sondern auch um einen direkten Angriff auf die Rechtsprechungskompetenz schweizerischer Gerichte, insbesondere des Schweizer Bundesgerichts, das in der Schweiz über Konflikte zwischen Schweizer und Völkerrecht letztinstanzlich Recht zu sprechen hat.

Dieser Artikel wurde zuerst am 26. Oktober 2016 auf LinkedIn veröffentlicht.

PHH, Zürich, den 9. Januar 2018 (www.haberbeck.ch)

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