Kurzbesprechung von einigen für die Praxis von Prozessanwältinnen und Prozessanwälten interessanten Urteilen

Kurzbesprechung von einigen für die Praxis von Prozessanwältinnen und Prozessanwälten interessanten Urteilen

In diesem Artikel sollen einige besonders für die Praxis von Prozessanwältinnen und Prozessanwälten interessante, die Zivilprozessordnung (ZPO) betreffende Urteile kurz vorgestellt werden.

 

Mangelhafte Eingaben (Art. 132 Abs. 2 ZPO)

Am 12. November 2020 veröffentlichte das Bundesgericht (BGer) einen interessanten Entscheid zu Art. 132 Abs. 2 ZPO betreffend mangelhafte Eingaben (Urteil 4A_351/2020 vom 13. Oktober 2020). Im Kern geht es in diesem Entscheid um eine Beschwerde gegen einen auf die genannte ZPO-Norm gestützten Nichteintretensentscheid des Handelsgerichts des Kantons Zürich (HGer ZH), der deshalb ohne Nachfristansetzung gefällt wurde, weil der Beschwerdeführer bereits früher zwei Klageschriften beim HGer ZH eingereicht hatte (in anderen Verfahren), die dieses Gericht für mangelhaft im Sinne von Art. 132 Abs. 2 ZPO (schwer verständlich, weitschweifig) qualifiziert hatte. Das BGer heisst die Beschwerde gut und zeigt in seinem Urteil auf, dass die Hürde offensichtlich rechtsmissbräuchlicher mangelhafter Eingaben im Lichte der gesetzlichen Pflicht zur Nachfristansetzung hoch anzusetzen ist. Von diesem rechtlichen Aspekt abgesehen, kann das Urteil 4A_351/2020 als klare Empfehlung dafür betrachtet werden, sich als Laie von einem Für-Sprecher (sic!) vertreten zu lassen, also von jemandem, der die “Story” und das Anliegen des Laien in eine möglichst verständliche und überzeugende Form bringt, was angesichts der Bedeutung des schriftlichen Vortrags in Schweizer Zivilprozessen gar nicht überschätzt werden kann.

 

Klagerückzug “angebrachtermassen” (Art. 63 und 65 ZPO)

Beim nächsten Entscheid, der hier in aller Kürze vorgestellt werden soll, handelt es sich um einen Beschluss des HGer ZH vom 5. Juni 2020, der auszugsweise in den Blättern für zürcherische Rechtsprechung abgedruckt wurde (ZR 119 (7/2020) Nr. 38, S. 180 ff.). In diesem Beschluss geht es u.a. um die Auslegung von Art. 63 und 65 ZPO, und zwar vor folgendem Hintergrund: Ein Kläger zog seine Klage wegen fehlender sachlicher Zuständigkeit beim Bezirksgericht Bülach zurück und reichte die Klage neu beim HGer ZH ein, aber nach Ablauf der in Art. 63 Abs. 1 ZPO gesetzten Frist von einem Monat. Der Beklagte machte in Übereinstimmung mit einem Teil der Lehre geltend, aufgrund des Verpassens dieser Monatsfrist habe der Kläger auf seinen Anspruch verzichtet.

Das HGer ZH folgt diesem Standpunkt in seinem Beschluss HG190210 vom 5. Juni 2020 nicht. Laut HGer ZH ist bei der Auslegung von Art. 63/65 ZPO zu unterscheiden zwischen dem Rückzug der Streitsache einerseits (Klagerückzug nach Eintreten der Fortführungslast mit Abstandsfolgen) sowie dem Rückzug des Verfahrens andererseits (Rückzug, der nur das aktuelle Verfahren beendet, ohne Abstandsfolgen).

Wichtig für den Praktiker ist im vorliegenden Zusammenhang, dass er gemäss HGer ZH “im Rahmen der Rückzugserklärung explizit auszuführen hat, welche Wirkungen er der Erklärung zumisst” (a.a.O., S. 183). Zieht eine Klägerin ihre Klage nicht definitiv, sondern nur „angebrachtermassen“ zurück, also um sie beim zuständigen Gericht neu einzureichen, ist bezüglich der Formulierung der Rückzugserklärung nach HGer ZH zu beachten, “dass alle Beteiligten erkennen können, dass ein Rückzug zwecks Klage am zuständigen Gericht erfolgt“ (a.a.O.). Sodann weist das HGer ZH in seinem hier besprochenen Beschluss auch darauf hin, dass der Kläger dem später angerufenen Gericht seine „angebrachtermassen“ erfolgende Rückzugserklärung zwingend einzureichen hat (a.a.O.).

 

Rechtsmissbräuchliche Beweisausforschung gestützt auf Art. 8 DSG

Am 8. Dezember 2020 veröffentlichte das BGer ein Urteil, das für die Praxis von Prozessanwältinnen und Prozessanwälten von signifikanter Bedeutung ist (Urteil 4A_277/2020 vom 18. November 2020). Es überrascht, dass das BGer dieses in Fünferbesetzung gefällte Urteil nicht als Leitentscheid qualifiziert hat. Im Kern hat das BGer mit diesem neuen Urteil die Rechtsauffassung der Vorinstanz korrigiert, “Art. 8 DSG setze kein datenschutzrechtliches Interesse voraus, sondern könne auch der alleinigen Abklärung von Prozessaussichten dienen” (E. 5.4). Nach Auffassung des BGer ist ein allein zur Abklärung von Prozessaussichten auf Art. 8 DSG gestütztes Auskunftsbegehren zweckwidrig und damit rechtsmissbräuchlich (a.a.O.): „[…] [Es] ist festgestellt, dass die Beschwerdegegner mit ihrem Auskunftsbegehren nur die Abklärung von Prozessaussichten verfolgen […] Die Beschwerdegegner machen denn auch nicht geltend, dass sie die Richtigkeit [der verlangten] Daten oder die Einhaltung der Datenbearbeitungsgrundsätze überprüfen wollen, um gegebenenfalls auf das DSG gestützte Ansprüche zu erheben. Unter diesen Umständen stellt das Auskunftsbegehren der Beschwerdegegner aber einen offenbaren Missbrauch des Rechts dar; sie nehmen das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht zweckwidrig in Anspruch […]“ (bestätigt im Urteil 4A_125/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 1.7.2).

Zwar dürfte obige Rechtsauffassung dogmatisch vertretbar sein, in seiner zivilprozessualen Auswirkung zeigt dieses Urteil aber einmal mehr, wie schwierig in der Schweiz die Informationsbeschaffung im Kontext von zivilprozessualen Auseinandersetzungen ist. Dies ist übrigens ein deutlicher Unterschied zu internationalen Schiedsgerichtsfällen (international commercial arbitrations), in denen heute ein deutlich höherer Level von Dokumenteneditionen als in Schweizer Zivilprozessen Standard ist.

 

Negative Feststellungswiderklagen: Bestätigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung

Am 22. Januar 2021 veröffentlichte das BGer einen für die amtliche Sammlung vorgesehenen neuen Leitentscheid zum praxisrelevanten Thema der negativen Feststellungswiderklage. Es handelt sich um das Urteil 4A_529/2020 vom 22. Dezember 2020.

Zur Erinnerung, in seinen früheren Leiturteilen BGE 143 III 506 sowie 145 III 299 entschied das BGer, dass das Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO bei negativen Feststellungswiderklagen nicht gilt. Diese Rechtsprechung hat zur Folge, dass das kosten- und damit risikoreduzierende Vorgehen einer Teilklage immer unter dem Damoklesschwert einer dahingehenden Widerklage der Beklagten steht, es sei festzustellen, die eingeklagte Gesamtforderung bestehe nicht und die Beklagte schulde gar nichts, womit der Streitwert (Art. 94 ZPO) und damit das Prozesskostenrisiko unter Umständen massiv steigen. In seinem am 21. Januar 2021 veröffentlichten neuen Leitentscheid 4A_529/2020 erklärt das BGer, dass es im vorliegenden Zusammenhang nicht auf die Unterscheidung zwischen sogenannten echten (betragsmässig beschränkter Teil eines Gesamtanspruchs) und unechten (individualisierbare, einem einheitlichen Rechtsgrund entspringende Teilansprüche) Teilklagen ankommt (E. 2.3): “Die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss Art. 224 Abs. 1 ZPO gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen; die Unterscheidung zwischen echten und unechten Teilklagen entfällt in diesem Zusammenhang.

Aus Klägersicht ist es im Lichte des mit Zivilprozessen vor Schweizer Gerichten verbundenen hohen Kostenrisikos bedauerlich, dass das BGer die Wirksamkeit des zwecks Reduzierung des Kostenrisikos vorhandenen Instituts einer Teilklage (Art. 86 ZPO) mit seiner Rechtsprechung de facto aushöhlt.

 

Anspruch auf mündliche Verhandlung im summarischen Mieterausweisungsverfahren

In einem Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen (Art. 257 ZPO) betreffend Mieterausweisung beantragte der Mieter ausdrücklich, es sei unter Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Die Erstinstanz lehnte diesen Antrag ab, und nachdem das Obergericht des Kantons Bern die gegen den erstinstanzlichen Räumungsentscheid gerichtete Berufung abgelehnt hatte, gelangte der Mieter mit Beschwerde in Zivilsachen an das BGer. In seinem interessanten Urteil 4A_451/2020 vom 12. November 2020, welches das BGer bemerkenswerter Weise nicht als Leitentscheid markiert hat, gelangt das BGer zum Schluss, der Mieter habe in einem Verfahren nach Art. 257 ZPO auf Ausweisung grundsätzlich einen konventionsrechtlichen Anspruch auf eine öffentliche mündliche Gerichtsverhandlung (E. 2.3).

Dieser grundsätzliche Anspruch auf eine öffentliche mündliche Gerichtsverhandlung gilt nicht absolut. Einerseits können die Parteien auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung explizit oder auch stillschweigend verzichten (E. 2.1). Andererseits bestehen verschiedene Ausnahmen, die je nach Einzelfall greifen können, wie etwa der Vorbehalt eines nur schikanösen oder zwecks Verzögerung gestellten Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (a.a.O.).

Mieterausweisungsbegehren im summarischen Verfahren nach Art. 257 ZPO (Rechtsschutz in klaren Fällen) haben eine hohe praktische Relevanz. Entsprechend wichtig ist in der Praxis die Anwendung dieses bundesgerichtlichen Urteils 4A_451/2020 durch die Mietgerichte und Parteivertreter. Nicht alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen dürften, etwa nach den Voraussetzungen eines stillschweigenden Verzichts auf eine mündliche Verhandlung, werden durch das erwähnte Urteil beantwortet (vgl. die lesenswerte Urteilsbesprechung von Thomas Koller, Summarexmission und öffentliche mündliche Verhandlung, in: Jusletter vom 8. Februar 2021).

 

Vorsicht bei der Auslegung und Formulierung von Gerichtsstandsklauseln (Art. 17 Abs. 1 ZPO)

Am 25. Februar 2021 veröffentlichte das BGer einen neuen, auf Italienisch verfassten Leitentscheid, der in der Lehre zu Diskussionen Anlass geben dürfte. Sehr stark simplifiziert geht es im Urteil 4A_343/2020 vom 9. Februar 2021 um folgende Situation: Eine KFZ-Importeurin mit Sitz in Zürich kündigte das langjährige Vertragsverhältnis zu ihrer Tessiner Vertragshändlerin. In vier Händler- und Werkstattverträgen befinden sich “enge” Gerichtsstandsklauseln (… Streitigkeiten aus diesem Vertrag…), in denen die Gerichte in Zürich für zuständig erklärt werden. In zwei Nebenverträgen betreffend den Verkauf der Fahrzeuge und von Ersatzteilen befinden sich – ebenfalls die Gerichte in Zürich für zuständig erklärende –  “weite” Gerichtsstandsklauseln (… alle Streitigkeiten aus dieser Geschäftsbeziehung…). Die Tessiner Vertragshändlerin klagte im Tessin auf Schadenersatz, worauf die in Zürich domizilierte KFZ-Importeurin die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit erhob. Das Verfahren wurde auf diese Frage beschränkt. Sowohl die beiden kantonalen Instanzen als auch das BGer verwarfen die Unzuständigkeitseinrede.

Verworfen wurde die örtliche Unzuständigkeitseinrede der Zürcher KFZ-Importeurin im Ergebnis deshalb, weil die von den Tessiner Gerichten und vom BGer für massgeblich betrachteten „engen“ Gerichtsstandsklauseln nach Auffassung dieser Gerichte den eingeklagten ausservertraglichen Schadenersatzanspruch der Tessiner Vertragshändlerin nicht erfassen.

Vor allem die Erwägung 7.3 des neuen Leitentscheids 4A_343/2020 enthält interessante Erwägungen des BGer, namentlich: (1) Die Vertragshändlerin habe nach Treu und Glauben nicht davon ausgehen müssen, dass die “weiten” Gerichtsstandsklauseln in den Nebenverträgen auf die Gesamtbeziehung der Parteien anwendbar seien. (2) Gerichtsstandsklauseln für alle Streitigkeiten aus einer Geschäftsbeziehung seien unzulässig, weil dies gegen das Erfordernis des bestimmten Rechtsverhältnisses gemäss Art. 17 Abs. 1 ZPO verstiesse. Die zweitgenannte Erwägung des BGer ist überraschend und nach meinem Dafürhalten irritierend. So ist doch fraglich, ob es wirklich die Meinung des BGer ist, dass es nicht mehr zulässig sein soll, weitgefasste Gerichtsstandsvereinbarungen zu treffen, die auf sämtliche möglichen Ansprüche aus einem Rechtsverhältnis anwendbar sind. Die Diskussion dieses Urteils ist aufmerksam zu verfolgen, nicht nur vom Prozessanwalt, sondern auch vom kautelarjuristisch tätigen Rechtsberater.

 

Rechtskraftwirkung bei abgewiesenen echten Teilklagen

Am 13. April 2021 veröffentlichte das BGer einen neuen Leitentscheid (Urteil 4A_449/2020 vom 23. März 2021), in dem es sich zur Frage der Rechtskraftwirkung bei abgewiesenen echten Teilklagen äussert, also wenn von einer Gesamtforderung (in casu CHF 5 Mio.) ein Teilbetrag (in casu CHF 100’000) eingeklagt wird. Wird eine solche echte Teilklage rechtskräftig abgewiesen (in casu vom Bezirksgericht Zürich), steht einer Klage über einen weiteren Teilbetrag (in casu vor dem HGer ZH) die Einrede der res iudicata entgegen (siehe E. 6.4.2 und auch, ausschnittsweise zitiert, E. 6.5): “Macht die klagende Partei mit der Teilklage einen einzig betragsmässig beschränkten Teil einer Forderung geltend, schliesst die rechtskräftige Abweisung der Teilklage grundsätzlich aus, dass die klagende Partei später einen weiteren Teilbetrag derselben Forderung einklagt.

Zürich, den 24. August 2021, Philipp H. Haberbeck, Dr. iur. / Rechtsanwalt (www.haberbeck.ch)

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