Neues Präjudiz des Bundesgerichts zum CISG: “​in dubio pro conventione”​

Neues Präjudiz des Bundesgerichts zum CISG: “​in dubio pro conventione”​

Am 12. Juli 2019 veröffentlichte das Schweizer Bundesgericht auf seiner Website einen neuen Leitentscheid vom 28. Mai 2019, in dem es sich mit dem Wiener Kaufrechtsübereinkommen (CISG) beschäftigt (Geschäfts-Nr.: 4A_543/2018). Dieses interessante Urteil, das vom Bundesgericht als Leiturteil gekennzeichnet worden ist und in der amtlichen Sammlung publiziert werden wird, enthält verschiedene interessante Erwägungen, insbesondere:

(1) Im einschlägigen Rechtsstreit standen sich eine Schweizer Käuferin (Klägerin) und zwei Verkäuferinnen (Beklagte) gegenüber, von denen eine ihren Sitz in der Slowakei, die anderen ihren Sitz ebenfalls (wie die Käuferin) in der Schweiz hat. Die Käuferin / Klägerin, die den einschlägigen Kaufvertrag wegen eines Willensmangels (Irrtum) angefochten hat, stellte sich sinngemäss auf den Standpunkt, weil eine der Verkäuferinnen ihren Sitz ebenfalls in der Schweiz hat, handle es sich beim einschlägigen Kaufvertragsverhältnis nicht um einen internationalen Kaufvertrag im Sinne von Art. 1 Abs. 1 CISG, womit das CISG nicht anwendbar sei. Das Bundesgericht verwarf diesen Standpunkt, im Kern mit der Begründung, es sei ausreichend, wenn an einem Mehrparteien-Kaufvertrag wenigstens eine Partei ihren Wohnsitz / Sitz nicht im gleichen Land wie die anderen Vertragsparteien hat; in den Worten des Bundesgerichts (E. 3.2.1):

Die Vorinstanz hat überzeugend dargelegt, dass für den vorliegenden Fall des Vertragsschlusses zwischen mehreren Parteien, bei denen nicht alle sich gegenüberstehenden Parteien eine Niederlassung in verschiedenen Vertragsstaaten haben, sich eine Unterstellung des gesamten Vertrages unter das CISG aufdrängt, um eine einheitliche Lösung zu finden. Auch die Lehre bejaht die Internationalität im Sinne von Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG zu Recht bereits, wenn bei einer Beteiligung mehrerer Personen auf einer Seite des Vertrages wenigstens eine davon ihre Niederlassung in einem anderen Vertragsstaat hat […].

(2) Ein weiteres Argument, das die Schweizer Käuferin / Klägerin gegen die Anwendbarkeit des CISG vorgebracht hat, bestand darin, dass der einschlägige Kaufvertrag in einem Submissionsverfahren abgeschlossen worden ist, was es in analoger Anwendung von Art. 2 lit. c CISG (Ausschluss von Zwangsvollstreckungs- oder anderen gerichtlichen Massnahmen) rechtfertige, das CISG auf den betreffenden Kaufvertrag nicht anzuwenden. Das Bundesgericht verwarf auch dieses Argument, im Kern mit dem Hinweis, die in Art. 2 CISG aufgeführten Ausnahmetatbestände seien abschliessen und nicht durch Analogieschlüsse erweiterbar (E. 3.3):

Insoweit die Beschwerdeführerin des Weitern rügt, die Vorinstanz habe verkannt, dass das Submissionsverfahren den ausdrücklich vom CISG ausgeschlossenen Zwangsvollstreckungs- oder anderen gerichtlichen Massnahmen im Sinne von Art. 2 lit. c CISG gleichzustellen sei, übergeht sie, dass die Aufzählung von Art. 2 CISG abschliessend ist, sodass sie auch nicht durch Analogie erweitert werden kann […]. Im Übrigen trifft zwar zu, dass die Durchführung eines Submissionsverfahrens in bestimmten Fällen vorgeschrieben ist und einen gesetzlichen Rahmen zu beachten hat, der insbesondere zur Gleichbehandlung aller Bietenden verpflichtet; es wird jedoch im Unterschied zu Zwangsvollstreckungs- oder anderen gerichtlichen Massnahmen i.S.v. Art. 2 lit. c CISG privat-autonom geleitet. Da weder der angerufene noch andere in Art. 2 CISG aufgezählte Ausschlusstatbestände einschlägig sind, ging die Vorinstanz zutreffend von der Anwendbarkeit des Übereinkommens aus, vorbehältlich einer anderslautenden Parteivereinbarung im Sinne von Art. 6 CISG.

(3) Ein weiteres Argument der Käuferin / Klägerin gegen die Anwendbarkeit des CISG stützte sich auf den vorstehend erwähnten Art. 6 CISG, der einen Ausschluss des CISG auf der Grundlage einer Parteivereinbarung vorsieht. In diesem Zusammenhang argumentierte die Käuferin / Klägerin u.a., die Gegenparteien hätten sich im erstinstanzlichen Prozess auf das Schweizer Obligationenrecht (OR) berufen, was von der Zweitinstanz in dem Sinne hätte berücksichtigt werden müssen, dass dieses Prozessverhalten der Verkäuferinnen / Beklagten als stillschweigender Ausschluss des CISG hätte gewürdigt werden müssen. Das Bundesgericht akzeptierte diesen Standpunkt nicht, im Kern mit dem sinngemässen Hinweis, es hätte von der Käuferin / Klägerin ein stillschweigender CISG-Ausschlusswille der Verkäuferinnen / Beklagten substantiiert dargelegt werden müssen, wozu der schlichte Hinweis auf das entsprechende erstinstanzliche Prozessverhalten der Verkäuferinnen / Beklagten (Verweis in deren Rechtsschrift(en) auf Bestimmungen des OR) nicht ausreiche (E. 4.4.3 / 4.4.4):

[Es] […] ist mit der herrschenden Rechtsprechung und Lehre davon auszugehen, dass ein Ausschlusswille nicht hypothetisch sein darf und deshalb immerhin voraussetzt, dass das Erklärungsbewusstsein und der Erklärungswille für eine derart vertragsmodifizierende Vereinbarung unzweideutig zu Tage tritt. In diesem Sinne reicht die rechtliche Argumentation gestützt auf internes Recht nicht ohne Weiteres aus, um einen Ausschlusswillen anzunehmen […]. Ob die Parteien sich der Anwendbarkeit des CISG zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Verfahrens überhaupt bewusst waren, kann dem angefochtenen Urteil nicht eindeutig entnommen werden und wird von der Beschwerdeführerin auch nicht genügend konkret behauptet, geschweige denn belegt. […]

(4) Das letzte hier zusammengefasste Argument der Klägerin / Käuferin bestand sinngemäss darin, die Vorinstanz habe Art. 4 lit. a CISG verletzt, indem sie (nota bene im Einklang mit der herrschenden Lehre) davon ausging, die Schweizer Normen zum Grundlagenirrtum würden vom CISG verdrängt. Das Bundesgericht prüfte dieses Argument im Detail, mit Verweis auf zahlreiche Lehrmeinungen und Urteile aus anderen Konventionsstaaten (vgl. E. 5.1 – 5.3.3). Im Ergebnis wies das Bundesgericht den Rechtsstandpunkt der Klägerin / Käuferin zurück, in diesem Zusammenhang somit der herrschenden Lehre folgend (E. 5.4):

Es ist unerheblich, ob ein nationales unvereinheitlichtes Recht im Vergleich zum CISG für die konkret gegebene Situation einen anderen Ansatz entwickelt hat oder abweichende, gar angemessenere Lösungen anbietet. Entscheidend ist allein, dass ein dem CISG unterliegender Kaufvertrag vorliegt, dessen Rechtsbehelfe den zu beurteilenden Sachverhalt abschliessend regeln […]. Damit ist es der Beschwerdeführerin verwehrt, den Vertrag an der Konvention vorbei zufolge Grundlagenirrtums (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR) als einseitig unverbindlich zu erklären.

Persönlich halte ich es für begrüssenswert, dass das Bundesgericht mit diesem Urteil, vielleicht etwas zugespitzt formuliert, den Schwerpunkt auf die internationale Rechtsvereinheitlichung im Bereich grenzüberschreitender Kaufverträge gelegt und den Ansatz “in dubio pro conventione” verfolgt hat.

Philipp H. Haberbeck, Zürich; erstmals veröffentlicht auf LinkedIn am 17. Juli 2019 (www.haberbeck.ch)

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