Retrozessionen – Wann besteht ein Anspruch auf Herausgabe?
In der Finanzindustrie ist es üblich, dass Anbieter von Anlageinstrumenten wie Fonds oder strukturierten Produkten, Vermögensverwaltern Kommissionen für den Erwerb ihrer Produkte bezahlen. Diese nennt man Retrozessionen oder auch Vertriebsentschädigungen. Banken und unabhängigen Vermögensverwaltern fliessen im Rahmen der Verwaltung von Kundenvermögen in Form von Retrozessionen hohe Beträge zu. Diese Kommissionen wurden von der Finanzindustrie über Jahrzehnte einbehalten, ohne den Kunden darüber zu informieren. Das Bundesgericht hat dieser Praxis im Jahr 2006 einen ersten Riegel geschoben und seitdem zu diesem Thema mehrere präzisierende Urteile erlassen.
Betroffene Kommissionen
Von der Herausgabepflicht betroffen sind sowohl externe Vermögensverwalter als auch Banken, wobei letztere gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung auch konzernintern verrechnete Provisionen, also solche Entschädigungen, die der Bank von ihren Konzerngesellschaften zufliessen, an den Kunden herausgeben müssen.
Vermögensverwaltung und Anlageberatung
Der Anspruch auf Herausgabe von Retrozessionen leitet sich aus dem Auftragsrecht (Art. 400 Abs. 1 OR) ab. Die Geltendmachung eines Herausgabeanspruches setzt somit ein auftragsrechtliches Vertragsverhältnis zwischen dem Finanzdienstleister und dem Kunden voraus. Ob die Dienstleistung von einer Bank oder einem anderem Vermögensverwalter angeboten wird, spielt dabei keine Rolle. In BGE 138 III 755, E. 5.4 hat das Bundesgericht ausdrücklich festgehalten, dass die Herausgabepflicht gemäss Art. 400 Abs. 1 OR “auf sämtliche Auftragsverhältnisse” anwendbar ist.
Ein Auftragsverhältnis liegt vor, wenn der Kunde den Finanzdienstleister mit der Verwaltung seines Vermögens betraut hat, also ein Vermögensverwaltungsvertrag vorliegt. Teilweise umstritten ist die Rechtslage in Bezug auf die Anlageberatung, wo im Unterschied zur Vermögensverwaltung der finale Entscheid über den Erwerb eines Finanzprodukts beim Kunden liegt. Wie die Vermögensverwaltung unterliegt auch die Anlageberatung nach heute unbestrittener Auffassung dem Auftragsrecht. Nach der hier vertretenen Auffassung besteht daher seitens der Banken und unabhängigen Vermögensverwaltern auch bei Anlageberatungsverhältnissen eine unverminderte Herausgabepflicht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb Art. 400 OR bei der Anlageberatung nicht zur Anwendung kommen sollte. Das Bundesgericht erwähnt im Zusammenhang mit seiner Rechtsprechung zu den Retrozessionen den latenten Interessenkonflikt des Vermögensverwalters in Bezug auf die Auswahl der Finanzprodukte, den es zu beseitigen gelte. Dieser besteht aber auch im Rahmen der Anlageberatung. So wird der Kunde in der Regel die vom Experten empfohlenen Finanzprodukte erwerben, auch wenn der finale Kaufentscheid bei ihm liegt.
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass nach der hier vertretenen Auffassung, der Kunde sowohl bei der Vermögensverwaltung als auch im Bereich der Anlageberatung einen Anspruch auf Herausgabe von Retrozessionen hat.
Verjährung des Herausgabeanspruches
Banken und unabhängige Vermögensverwalter vertraten aus Igeninteresse bis anhin die Auffassung, Ansprüche auf Herausgabe der Retrozessionen unterlägen der fünfjährigen Verjährungsfrist. Begründet wurde dies damit, dass die Kommissionen von den Anbietern der Finanzprodukte gegenüber den Banken und Vermögensverwaltern in regelmässigen Abständen abgerechnet würden, weshalb die Verjährungsfrist für periodische Leistungen gemäss Art. 128 Abs. 1 OR zur Anwendung gelange. Die Mehrheit der Lehre sowie der kantonalen Rechtsprechung vertrat sprach sich für eine Verjährungsfrist von 10 Jahren aus. Das Bundesgericht hat die Frage mit Urteil vom 16. Juni 2017 definitiv entschieden: Der Anspruch des Auftraggebers auf Herausgabe von Retrozessionen, die dem Beauftragten von Dritten zugeflossen sind, unterliegt einer Verjährungsfrist von zehn Jahren. Die Verjährung beginnt für jede einzelne Retrozession an dem Tag zu laufen, an dem sie der Beauftragte erhalten hat.
Verzicht auf Herausgabe von Retrozessionen
Banken und externe Vermögensverwalter begannen aufgrund der im Jahr 2006 eingeleiteten Rechtsprechung des Bundesgerichts mit etwas zeitlicher Verzögerung ihre Vertragsdokumente, insbesondere die AGB’s anzupassen. Diese enthalten nun praktisch immer eine Klausel, wonach der Kunde auf seinen Anspruch auf die Herausgabe von Retrozessionen verzichtet. In BGE 137 III 393 hat das Bundesgericht die strengen Voraussetzungen an einen solchen Verzicht des Bankkunden näher umschrieben. Danach ist zusammengefasst erforderlich, dass der Auftraggeber den Umfang sowie die Berechnungsgrundlagen der Retrozessionen kennt, damit es ihm möglich ist, die Kostenstruktur des Beauftragten zu erfassen sowie die damit verbundenen Interessenkonflikte zu erkennen. Er muss also die Parameter kennen, die zur Berechnung des Gesamtbetrags der Vertriebsentschädigungen notwendig sind und einen Vergleich mit dem vereinbarten Honorar erlauben.
Wer mit einer Bank oder einem unabhängigen Vermögensverwalter seit längerer Zeit ein Vermögensverwaltungs- oder Anlageberatungsverhältnis hat, dem ist zu empfehlen, möglichst bald zu klären, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er Anspruch auf die Herausgabe von Retrozessionen hat. Dabei gilt es zu beachten, dass sowohl Banken als auch unabhängige Vermögensverwalter solche Ansprüche mit allen möglichen Begründungen ablehnen. Oft lassen sich bei sorgfältiger Prüfung der Ansprüche und entsprechender Geltendmachung gute Vergleiche erzielen. Eine gewisse Hartnäckigkeit lohnt sich.
Rechtsgebiete: Allgemeines Vertragsrecht, Bank- und Finanzmarktrecht