Rückdatierung der Rechtshängigkeit: neuer Leitentscheid des Bundesgerichts

Rückdatierung der Rechtshängigkeit: neuer Leitentscheid des Bundesgerichts

Art. 63 der schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) bietet die Möglichkeit, eine bei einer unzuständigen Schlichtungs- oder Gerichtsbehörde eingereichte Eingabe bei der zuständigen Stelle neu einzureichen, ohne das frühere Einreichungsdatum zu verlieren, was u.a. dann entscheidend sein kann, wenn das Datum der Rechtshängigkeit für die Einhaltung einer Verwirkungsfrist relevant ist.

Art. 63 ZPO lautet: “Wird eine Eingabe, die mangels Zuständigkeit zurückgezogen oder auf die nicht eingetreten wurde, innert eines Monates seit dem Rückzug oder dem Nichteintretensentscheid bei der zuständigen Schlichtungsbehörde oder beim zuständigen Gericht neu eingereicht, so gilt als Zeitpunkt der Rechtshängigkeit das Datum der ersten Einreichung.

In seinem früheren Leiturteil BGE 141 III 481 hatte das Bundesgericht festgelegt, die Neueinreichung bei der zuständigen Behörde zwecks Rückdatierung der Rechtshängigkeit gemäss Art. 63 ZPO setze voraus, dass exakt die gleiche Rechtsschrift verwendet wird (im Original), allenfalls zusammen mit einem erklärenden Begleitschreiben (E. 3.2.4).

Anfang Oktober 2019 hat das Bundesgericht ein neues, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil veröffentlicht, das in Bezug auf den vorstehend umrissenen Zusammenhang interessante Erwägungen enthält.

In seinem neuen Leitentscheid 4A_44/2019 vom 20. September 2019 erklärt das Bundesgericht, dass die vorstehend erwähnte Rechtsprechung gemäss BGE 141 III 481 dann auch auf Schlichtungsgesuche anzuwenden ist, wenn diese inhaltlich die Anforderungen an eine Klageschrift erfüllen (4A_44/2019, E. 3.5.1 / 3.5.2). Mit anderen Worten, ist ein Schlichtungsgesuch nicht nur ganz rudimentär, sondern ausführlicher formuliert, so dass es auch als Klageschrift bei einer Gerichtsbehörde eingereicht werden könnte, so ist bei einer Neueinreichung gemäss Art. 63 ZPO das identische Schlichtungsgesuch zu verwenden. In den Worten des Bundesgerichts (4A_44/2019, E. 3.5.3): “Für die  Rückdatierung der Rechtshängigkeit gilt aber das Erfordernis der gleichen, im Original einzureichenden Rechtsschrift gemäss BGE 141 III 481 E. 3.2.4 S. 487 f., auch wenn eine Eingabe zunächst bei einer unzuständigen Schlichtungsbehörde eingereicht wurde.

Wie die Situation zu beurteilen ist, wenn sich ein Schlichtungsgesuch auf den rudimentären Mindestinhalt beschränkt, konnte das Bundesgericht in seinem neuen Leitentscheid offenlassen.

Interessant ist der neue Leitentscheid 4A_44/2019 auch deshalb, weil er in Erinnerung ruft, dass die vorstehend erwähnte Regel “identische Eingabe im Original neu einreichen” im Einzelfall unter dem verfassungsrechtlich verankerten Verbot des überspitzen Formalismus steht (E. 4).

In casu hatte der Kläger beim Handelsgericht des Kantons Bern (Handelsgericht Bern) nicht das identische Schlichtungsgesuch im Original eingereicht, sondern hatte – auf der Basis des Schlichtungsgesuchs – eine Klageschrift erstellt und eingereicht, die inhaltlich mit dem Schlichtungsgesuch identisch war, abgesehen von wenigen formalen Anpassungen (Titel, Datum sowie Hinweis auf Art. 63 Abs. 1 ZPO). Eine Kopie des ursprünglich bei der Schlichtungsbehörde eingereichten Schlichtungsgesuchs war dieser Klageschrift ebenfalls beigefügt. Den Standpunkt des Handelsgerichts Bern, ein solches Vorgehen sei im Lichte von BGE 141 III 481 unzulässig, wies das Bundesgericht als überspitzt formalistisch zurück (4A_44/2019, E. 4.4):

Die in BGE 141 III 481 angestellten Überlegungen gründen darauf, dass für die Beurteilung von Vorgängen, welche die Wahrung von Fristen beeinflussen, im Interesse der Rechtssicherheit einfache und klare Grundsätze aufzustellen sind (E. 3.2.4 S. 487). Es kann demnach nicht Aufgabe des neu angerufenen Gerichts sein, die Klageschrift daraufhin zu untersuchen, ob und in welchem Umfang sie sich von der zunächst eingereichten Eingabe unterscheidet und ob die Verschiedenheit der beiden Eingaben ein Ausmass erreicht, das eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit nicht mehr rechtfertigen lässt. Von einer solchen Prüfung ist ein Gericht in praktikabler Weise grundsätzlich nur dann befreit, wenn ein Ansprecher die mit dem Eingangsstempel versehene Originaleingabe einreicht. 

Zu berücksichtigen ist nun einerseits, dass der Beschwerdeführer seiner beim Handelsgericht eingereichten Rechtsschrift rechtzeitig (also innert Monatsfrist nach Art. 63 Abs. 1 ZPO) eine Kopie seiner Eingabe an die Schlichtungsbehörde beigelegt hatte. Andererseits ist zu beachten, dass Schlichtungsgesuche in der Regel sehr kurz sind. Art. 202 Abs. 2 ZPO verlangt einzig die Bezeichnung von Gegenpartei, Rechtsbegehren und Streitgegenstand. Entsprechend ist ohne Weiteres erkennbar, ob die beiden eingereichten Versionen (die neu eingegebene Klageschrift und das ursprüngliche Schlichtungsgesuch) identisch sind. Eine solche Prüfung wäre dem Handelsgericht auch im vorliegenden Fall ohne nennenswerten Aufwand möglich gewesen, woran nichts ändert, dass der Beschwerdeführer in seinem nicht einmal 3.5 Seiten umfassenden Schlichtungsgesuch (inklusive Deckblatt) eine halbe Seite Sachverhalt und vier Beweismittel (darunter die Anwaltsvollmacht) anfügte. Dass der Beschwerdeführer am 2. Oktober 2017 eine Kopie und nicht das Original des Schlichtungsgesuchs vom 28. August 2017 eingab, schadet unter diesen Umständen nicht; vielmehr hätte die Nachreichung des Originals zugelassen werden müssen. Das gegenteilige Vorgehen der Vorinstanz, die nachträgliche Eingabe des (rechtzeitig in Kopie eingereichten) Originals nicht zuzulassen und aus diesem Grund die Rückdatierung der Rechtshängigkeit abzulehnen, ist überspitzt formalistisch und verstösst gegen Art. 29 Abs. 1 BV. Folglich trägt die für die Klageabweisung massgebliche Begründung der Vorinstanz nicht mehr. Die Beschwerde erweist sich als begründet.

Nach hier vertretener Auffassung ist dieser neue bundesgerichtliche Leitentscheid zu begrüssen. Natürlich herrscht im Zivilprozessrecht eine erhebliche Strenge, was u.a. zur Sicherstellung effizienter Abläufe unvermeidbar ist. Strenge darf aber nie zum Selbstzweck werden, oder sogar die Funktion erfüllen, die Geschäftslast von Gerichten möglichst tief zu halten, was offensichtlich mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie unvereinbar wäre.

PHH, Zürich, den 11. November 2019 (www.haberbeck.ch)

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