Und sie bewegt sich doch! Oder von der Aufgabe der Schweizer Juristinnen und Juristen in der heutigen Corona-Krise

Und sie bewegt sich doch! Oder von der Aufgabe der Schweizer Juristinnen und Juristen in der heutigen Corona-Krise

Da gemäss dem in der Corona-Krise über politische Entwicklungen auffällig gut unterrichteten Schweizer Boulevardblatt Blick in der Schweiz die nächste Massnahmenverschärfung anstehen dürfte (siehe: https://www.blick.ch/politik/bundesrat-will-ernst-machen-ab-montag-soll-das-erweiterte-corona-zertifikat-gelten-id16811630.html), und weil die Diskussion über die Corona-Politik in letzter Zeit bedauerlicherweise deutlich an Schärfe gewonnen hat (siehe zu diesem Thema etwa: https://www.dieostschweiz.ch/artikel/die-mediale-hetze-schaukelt-sich-hoch-KvAqNJ6), möchte ich in diesem Artikel kurz auf einige „Corona-Aspekte“ aus der Perspektive des Schweizer Juristen hinweisen.

Der Sage nach soll Galileo Galilei, der aufgrund eines Inquisitionsverfahrens seiner Lehre von der Erdbewegung 1633 abschwören musste, später gesagt haben: „Und sie bewegt sich doch!“ (siehe etwa: https://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3055&edit=0) Ob Galilei tatsächlich öffentlich auf seiner Theorie beharrte, wissen wir nicht. Bekannt ist hingegen, dass er erst 1992 durch den Vatikan rehabilitiert wurde (a.a.O.).

Das Schicksal Galileo Galileis ist nur ein besonders extremes Beispiel dafür, dass sich einst als wahr und richtig geltende Dogmen, Regeln, Konzepte etc. in einem späteren Zeitpunkt als unhaltbar erweisen können. Modernere Beispiele hierfür sind etwa der von 1872 bis 1994 im deutschen Strafgesetzbuch in Kraft stehende sogenannte „Schwulenparagraph“ 175 (siehe etwa: https://de.wikipedia.org/wiki/§_175) oder die sehr späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz, die auf Bundesebene erst im Jahre 1971 (sic!) erfolgte (siehe etwa: https://ch2021.ch/geschichte/).

Gemeinsam ist den obigen Beispielen, dass die sich später als Falschbeurteilungen herausstellenden Dogmen, Regeln, Konzepte etc. immer schon falsch waren, also dass sich die Erde natürlich schon immer gedreht hat und dass es auch schon immer falsch war, Homosexuelle und Frauen zu diskriminieren. Der Umstand, dass die Mehrheit oder sogar die Gesamtheit einer Bevölkerung während gewisser und zum Teil sehr langer Zeit von der Richtigkeit der betreffenden Dogmen etc. überzeugt war, machte sie selbstverständlich nie richtig. Gemeinsam ist diesen Beispielen weiter der gemeinsame Nenner, dass sie Normen reflektieren, die gebrochen, sanktioniert, modifiziert etc. werden können (Inquisition, „Schwulenparagraph“, Frauenstimmrecht).

Was bedeutet Obiges für die aktuelle Corona-Pandemie bzw. die Politik, mit der hierauf reagiert wird? Nach meinem Dafürhalten lassen sich hiervon verschiedene interessante Gedanken ableiten.

Ein solcher Gedanke ist, dass von den Staaten beschlossene Massnahmen nicht per se richtig sind, nur weil sie von einer Gesetzes- oder Regierungsbehörde stammen. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der die von den Staaten beschlossenen Corona-Massnahmen kritiklos und ohne eigene Prüfung akzeptiert. Dieser Teil der Bevölkerung dürfte sich heute in der Mehrheit befinden. Wie aber die Corona-Politik in der historischen Rückschau beurteilt werden wird, ist hiervon unabhängig. Nehmen wir als historisches Beispiel die oben erwähnte harzige Entwicklung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Die Ablehnung der Gleichstellung der Frau wurde in der Schweiz beschämend lange von einer Mehrheit der Bevölkerung gestützt. Aus heutiger Sicht war diese Ablehnung trotzdem schon immer falsch.

Ein weiterer Gedanke ist, dass von den Juristinnen und Juristen in unserer Rechtsordnung erwartet werden darf, die aktuelle Entwicklung und die in unserem Land beschlossenen Corona-Massnahmen aus rechtsstaatlicher Sicht genau und kritisch zu beobachten. Was wir seit ca. eineinhalb Jahren erleben, gleicht einer Operation am offenen Herzen unseres Rechtsstaates. Das, was wir im Studium zum Teil vor vielen Jahren in Vorlesungen zur Staatslehre und zum Bundesstaatsrecht über Grund- und Freiheitsrechte gelernt haben, hat eine unerwartete Aktualität erhalten. Wer wie ich in den 1990er Jahren in der Schweiz Jura studiert hat, konnte sich dahingehend in falscher Sicherheit wiegen, dass die Integrität von Freiheitsrechten in der Schweiz quasi systemimmanent oder gottgegeben sei (Präambel der Bundesverfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“). Seit dieser Corona-Krise wissen wir, dass es sich anders verhält. Dass es also auch in unserem Land Situationen geben kann, in denen über den Umfang und die Unantastbarkeit von verfassungsmässigen Freiheitsrechten plötzlich mit nicht erwarteter Intensität diskutiert wird.

Gute Juristinnen und Juristen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich täglich darum bemühen, Fragestellungen rational, also fakten- und evidenzbasiert zu beurteilen. Auf Prozessanwältinnen und Prozessanwälte wie mich dürfte dies übrigens in besonders hohem Masse zutreffen, gehört es doch sozusagen zu ihrer déformation professionnelle, etwas grundsätzlich nur dann als erstellt zu betrachten, wenn es sich beweisen lässt. Hinzu kommt, dass sich die meisten Schweizer Prozessanwältinnen und Prozessanwälte aufgrund ihres Berufes ständig mit neuen Sachverhalten auseinandersetzen müssen, ist doch der Schweizer Rechtsmarkt grundsätzlich zu klein, um als Prozessanwältin oder Prozessanwalt nur in einer hochspezialisierten Nische tätig zu sein, etwa ausschliesslich Produktehaftpflichtfälle in einer bestimmten Industrie zu führen. Als Schweizer Prozessanwältin und Prozessanwalt ist man es also gewohnt und geübt, sich in neue Gebiete einzuarbeiten, einschliesslich wissenschaftlicher Gebiete. Von Juristinnen und Juristen kann also erwartet werden, dass sie sich mit dem Thema der Corona-Pandemie faktenbasiert auseinandersetzen.

Ein weiterer Aspekt, der besonders auf Juristinnen und Juristen in unserer Rechtsordnung zutrifft, ist, dass sie sich gefahrlos Kritik auch an den obersten Autoritäten erlauben können. Die Meinungsfreiheit ist in unserem Land gewährleistet, und von ihr kann im Gegensatz zu anderen Ländern Gebrauch gemacht werden, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. In diesem Zusammenhang ist nach meinem Dafürhalten zu berücksichtigen, dass gerade Prozessanwältinnen und Prozessanwälte, zumindest wenn sie selbständig tätig sind, über die nötige Unabhängigkeit verfügen sollten, ihre Meinungsfreiheit auch zu nutzen, wenn sie Missstände in der Corona-Politik erkennen.

Vor obigem Hintergrund ist es nach hier vertretener Auffassung die Aufgabe von Schweizer Juristinnen und Juristen, dafür einzustehen, dass gewisse verfassungsmässige Grundrechte in der Corona-Politik nicht zur Disposition stehen dürfen. Zu diesen Grundrechten gehören insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Schutz des Privat- und Familienlebens sowie das Verhältnismässigkeitsgebot.

Wenn sich gewisse Politiker und Medienvertreter dazu hinreissen lassen, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie einem Impfzwang das Wort zu reden, sind diese an die überragende Bedeutung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zu erinnern. Dies gilt völlig unabhängig davon, dass es selbstverständlich vernünftig und zu unterstützen ist, dass sich alle, die dies wünschen, gegen Covid-19 impfen lassen. Sei dies aufgrund einer persönlichen Risikoabwägung, z.B. bei Betagten oder Personen mit relevanten Vorerkrankungen, sei dies, um dank des Corona-Zertifikats wieder umstandsloser reisen zu können, oder bestehe das Motiv darin, sich im Sinne eines altruistischen Dienstes am Gemeinwesen gegen Covid-19 impfen zu lassen. Solche persönlichen Entscheidungen sind selbstverständlich zu respektieren. Und natürlich sollen Ärzte, Behörden usw. über das Für und Wider von Covid-19-Impfungen informieren dürfen. In juristischer Hinsicht darf die rote Linie einer zwangsweise verabreichten Corona-Impfung in unserem Rechtsstaat jedoch nie überschritten werden, weil dies einem menschen- und verfassungsmässigen Tabubruch gleichkäme, der juristisch nicht zu rechtfertigen wäre und einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde.

In einem Rechtsstaat darf auch der Schutz des Privat- und Familienlebens nicht in nicht zu rechtfertigender Weise in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies ist mit der inzwischen aufgehobenen sogenannten 5-Personen-Regel jedoch leider geschehen. Es lässt sich mit dem verfassungsmässigen Schutz des Privat- und Familienlebens schlicht nicht in Einklagen bringen, wenn es etwa einer vierköpfigen Familie unter welchem Titel auch immer verboten sein soll, die Grosseltern zu einem Mittag- oder Abendessen empfangen zu dürfen. Oder wenn es, um ein weiteres Beispiel zu geben, einer religiösen jüdischen Familie untersagt sein soll, gemeinsam den Sabbat zu feiern.

Einstehen sollten wir Juristinnen und Juristen auch für das Respektieren des zentralen verfassungsmässigen Verhältnismässigkeitsgebots, das in der aktuellen Pandemie zum Teil bereits unter die Räder geraten ist und auch in Zukunft wieder unter die Räder zu geraten droht. Ein Element des Verhältnismässigkeitsgebotes ist die Erforderlichkeit einer Massnahme, das gesetzliche und im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen, hier den Gesundheitsschutz. Es liegt auf der Hand, dass die Politik in dieser Hinsicht auch in der Schweiz mit gewissen Massnahmen über das Ziel bzw. das, was verfassungsmässig gerade noch als verhältnismässig qualifiziert werden konnte, hinausgeschossen hat. So war es z.B. Eltern eine Zeitlang untersagt, ihren Kindern am Spielfeldrand bei einem Fussballspiel zuschauen zu dürfen, auch wenn die Eltern Abstand gehalten und sogar Masken getragen hätten. Jede und jeder, der schon Vormittage auf irgendeinem Fussballplatz in der Stadt Zürich oder auf dem Land verbracht hat, weiss, dass es ausgeschlossen ist, dass sich bei Einhaltung gewisser Regeln (Abstand, Masken, kein Händeschütteln etc.) das Coronavirus in einer solchen Situation verbreitet. Dies ist ein Beispiel, über weitere liesse sich diskutieren, insbesondere die jetzt offenbar anstehende Ausdehnung der Zertifikatspflicht.

Von gewissen Bürgerinnen und Bürgern wird die Auffassung vertreten, man solle im hier diskutierten Zusammenhang pragmatisch und grosszügig sein. Nach dem Motto, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Diese Auffassung ist gefährlich und meiner Meinung nach abzulehnen, wofür sich verschiedene Gründe anführen lassen.

Ein Grund ist der Umstand, dass die verfassungsmässigen Grundrechte gerade in Stressphasen zu respektieren sind. Gerade dann, wenn der Staat aufgrund einer aussergewöhnlichen Situation besonders machtvoll auftritt und wohl auch auftreten muss, hat er sicherzustellen, dass die sich aus den Grundrechten ergebenden Schranken nicht überschritten werden. Grundrechte sind mit anderen Worten keine theoretischen „Schönwetter-Konstrukte“, sondern haben sich besonders dann praktisch zu bewähren, wenn eine Gesellschaft und ein Staat unter Druck geraten. Weitere Krisen werden in der Zukunft folgen, möglicherweise noch einschneidendere und schwerwiegendere, etwa wenn sich gewisse Prognosen betreffend den Klimawandel bewahrheiten sollten. Der heutige Umgang des Staates mit den verfassungsmässigen Grundrechten ist auch mit Blick auf die Zukunft wichtig, um keine Präzedenzfälle zu schaffen, die sich unter zukünftigen schwierigen Umständen als „Steilvorlagen“ für noch massivere Grundrechtseingriffe erweisen könnten.

Ein anderer Grund, der dagegen spricht, es mit der Verfassung in Zeiten von Corona nicht so genau zu nehmen, liegt darin, dass die vorstehend diskutierten politischen Grenzüberschreitungen das Potenzial haben, das Vertrauen in die politischen Institutionen zu beschädigen. Ein solcher Vertrauensverlust wäre hochproblematisch, fusst doch gerade eine freiheitliche demokratische Willensnation wie die Schweiz auf dem Vertrauen, das ihre Bürgerinnen und Bürger ihren Institutionen entgegenbringen. Erodierte dieses Vertrauen, könnte dies die Stabilität des Fundaments beschädigen, auf das gerade unser Staat als Willensnation angewiesen ist.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist der, dass Grundrechte in einem demokratischen Staatswesen eine Art Minderheitenschutz darstellen. Von der Verfassung garantierte Grundrechte stellen sozusagen einen Sicherheitsmechanismus dar, der es verhindern soll, dass eine Minderheit durch eine demokratisch legitimierte Mehrheit in ihren Rechten in verpönter Weise beschnitten wird.

Die obigen Zusammenhänge sind vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht klar, was nicht weiter überraschen kann. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft fallen den verschiedenen Berufsgruppen unterschiedliche Aufgaben zu. Die Aufgabe der Juristinnen und Juristen ist es nun aber, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und die Einhaltung der verfassungsmässigen Grundrechte anzumahnen, wenn diese in Situationen wie der aktuellen unter Druck geraten.

Philipp H. Haberbeck, Zürich, den 8. September 2021 (https://haberbeck.ch)

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